Fast 97 Prozent der Betroffenen haben eine Belastungsinkontinenz oder eine Reizblase. Die Symptomatik ist unterschiedlich. Bei der Belastungsinkontinenz verliert man ungewollt Urin beim Husten, Lachen, Niesen oder Springen. In schlimmeren Fällen kann dies auch bereits beim Aufstehen, beim Lagewechsel oder beim Umdrehen im Bett passieren. Die Reizblase reagiert anders. Sie löst häufiges Wasserlassen aus, sowohl am Tag als auch in der Nacht. Man spricht deshalb auch von einer überaktiven Blase. Manche müssen 12- bis 15-mal täglich zur Toilette. Und obwohl die Urinmenge gering ist, schaffen es nicht alle rechtzeitig.
„Jede Inkontinenz lässt sich behandeln“
Inkontinenz kann in unterschiedlichen Formen auftreten, und zwar nicht nur im hohen Alter. Warum es sinnvoll ist, sich bereits bei ersten Symptomen ärztlich beraten zu lassen, erklärt Prof. Dr. med. Andreas Wiedemann (64), leitender Oberarzt der Klinik für Urologie des Evangelischen Krankenhaus Witten sowie erster Vorsitzender der Deutschen Kontinenz Gesellschaft, im Interview.
Etwa zehn Millionen Menschen in Deutschland sind von Harninkontinenz betroffen. Welches sind die häufigsten Arten der Blasenschwäche?
Und die restlichen drei Prozent – welche Inkontinenzformen gibt es noch?
Es sind seltene Formen. Dazu gehört zum Beispiel die Überlaufinkontinenz. Wird die Blase zu voll, läuft sie wie bei einem zu stark gefüllten Glas über, was sich durch Tröpfeln bemerkbar macht. Das kann die Folge einer Prostatavergrößerung sein. Die neurogene Harninkontinenz tritt hingegen in Verbindung mit einer neurologischen Erkrankung auf, etwa Parkinson, Multipler Sklerose oder infolge eines Schlaganfalls. Eine äußerst seltene Form ist zudem die extraurethrale Harninkontinenz. Dabei handelt es sich um ein kleines Loch in der Blase oder an der Harnröhre, sodass Urin an einem falschen Ausgang abgeht.
Wie unterscheiden sich die Therapieansätze für die unterschiedlichen Inkontinenzformen?
Grundsätzlich gilt: Je früher behandelt wird, desto besser sind die Erfolgsaussichten. Sowohl bei der Belastungsinkontinenz als auch bei der Reizblase setzen wir zunächst auf konservative Behandlungsmethoden. Tritt die Belastungsinkontinenz bei Frauen in Zusammenhang mit einem Hormonmangel auf, lässt sich dieser zum Beispiel mit Östrogen-Cremes oder -Zäpfchen ausgleichen. Hinzukommt angeleitetes Beckenbodentraining in speziellen Physiotherapiezentren. Mit dieser Kombination lässt sich in vielen Fällen eine Belastungsinkontinenz gut in den Griff bekommen. Klappt dies nicht, lassen sich operativ Kunststoffbänder zwischen Harnröhre und Scheide implantieren, sodass die Harnröhre einen besseren Halt bekommt.
Und wie lässt sich eine Reizblase therapieren?
Bei einer Reizblase schauen wir zunächst ebenfalls, ob der Hormonhaushalt gestört ist, und gleichen den Mangel gegebenenfalls aus. Diese Harninkontinenzform lässt sich zudem sehr gut mit Medikamenten behandeln. Führt beides nicht zum Erfolg, kann auch eine Injektion von Botulinumtoxin in die Blase infrage kommen, um diese zu beruhigen. Diese Behandlung wird in der Regel von den Krankenkassen bezahlt. In sehr seltenen Fällen entscheiden wir uns für Neuromodulation. Dies ist eine Highendbehandlung, bei der eine Art Schrittmacher die Nervenwurzeln, die zur Blase führen, stimuliert.
Mit welchen Erfolgsaussichten können Betroffene rechnen?
Die Prognosen der unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten sind exzellent. Allerdings gilt: Je früher man mit der richtigen Therapie beginnt, desto leichter stellt sich der Erfolg ein.
Dieser hängt zudem von der Inkontinenzform und der Schwere ab. Gegen die Symptome einer Reizblase helfen Medikamente bereits nach einer Woche. Bei einer Belastungsinkontinenz, die in Kombination mit Physiotherapie behandelt wird, müssen Betroffene mehrere Wochen bis Monate lang trainieren. Der Erfolg ist dabei also eine Frage der Geduld, des richtigen Trainings und des Fleißes.
Das heißt, jede Inkontinenz ist behandelbar?
Ganz genau! Es sei denn, der Patient weigert sich oder der behandelnde Arzt will nicht. Leider kommt es häufig vor, dass sich Ärzte nicht mit diesem Thema beschäftigen möchten. Sie wiegeln ab und tun die Inkontinenz als normale Alterserscheinung ab. Doch keine Inkontinenz gehört zum Alter dazu!
Welche Ärzte sind denn die richtigen Ansprechpartner?
Gute Anlaufstellen sind Hausärzte, Gynäkologen und Urologen. Sie können die Basisdiagnostik und -therapie machen. Wichtig ist, dass Betroffene überhaupt erst mal zu einem Arzt gehen, das Problem schildern und sich dann beraten lassen, was zu tun ist. Falls dieser nicht weiterhelfen kann, findet man auf der Homepage der Deutschen Kontinenzgesellschaft entsprechende bundesweite Beratungsstellen.
Wie lange dauert es in der Regel, bis sich Betroffene medizinische Hilfe holen?
Aus unserer Erfahrung dauert es durchschnittlich neun Jahre, bis sich Betroffene nach den ersten Inkontinenzsymptomen an einen Arzt wenden. Das liegt auch daran, dass sich viele für die Inkontinenz schämen und deshalb das Thema sowohl privat als auch beim Arzt verschweigen. Oft braucht es Schlüsselerlebnisse. Wenn beispielsweise das erste Mal das Sofa bei der Freundin nass ist, ist für viele Frauen der Zeitpunkt gekommen, sich medizinische Hilfe zu suchen.
Welche Gefahren drohen, wenn Inkontinenz aus Scham dauerhaft verschwiegen wird?
Wir wissen, dass Inkontinenz kein isoliertes Problem ist. Sie kann zu depressivem Verhalten führen. Betroffene ziehen sich zurück, nehmen nicht mehr am öffentlichen Leben teil, meiden Risikosituationen wie den Gang mit Freunden ins Kino. Sie gehen nicht mehr zu Geburtstagen oder Feiern. Im Alter führt Inkontinenz leider häufig zur Heimunterbringung. Die sozialen Folgen sind schlimm für die Betroffenen.
Was können Betroffene tun, bei denen eine Operation zur Behandlung der Inkontinenz empfehlenswert wäre, aber ein medizinischer Eingriff nicht erwünscht ist?
Besonders für Frauen, die sich nicht operieren lassen wollen oder können, gibt es Produkte, die den Alltag mit einer Harninkontinenz erleichtern können. Dazu zählen etwa spezielle Tampons oder Pessare, die vaginal eingeführt und tagsüber getragen werden können. Im Drogerie- oder Sanitätsfachhandel gibt es zudem aufsaugende Inkontinenzprodukte, die ebenfalls Schutz bieten können.
Prof. Dr. med. Andreas Wiedemann | Fotocredit: Volker Beushausen
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