Die gute Wurst oder: warum Stuhlinkontinenz keine Krankheit ist

Stuhlinkontinenz betrifft mehr Menschen, als man denkt. Dabei geht es um weit mehr als die Tatsache, Stuhl nicht halten zu können – es geht um Lebensqualität, Selbstwertgefühl und gesellschaftliche Teilhabe. Im Interview spricht Dr. Caterina Schulte-Eversum, Proktologin, Sexualmedizinerin und Fachärztin für Allgemeinchirurgie, offen und einfühlsam über Ursachen, Therapieoptionen und die vielschichtigen Auswirkungen dieses Tabuthemas. Ihre Haltung ist klar: Reden hilft – und zwar ohne Scham. Ein Gespräch, das Mut macht und Wissen vermittelt.

Dr. Caterina Schulte-Eversum ist Proktologin, Sexualmedizinerin und Fachärztin für Allgemeinchirurgie in Moers

Frau Doktor Schulte-Eversum, können Sie uns erklären, was Stuhlinkontinenz eigentlich genau ist?

Stuhlinkontinenz beschreibt den Zustand, Stuhl nicht kontrolliert halten zu können. Stuhl bedeutet nicht nur geformter Stuhl, sondern man unterteilt auch noch in Pupser oder dünnen, weichen, flüssigen beziehungsweise matschigen Stuhl. Und da sind wir auch schon beim Problem, weil die medizinischen Definitionen dieser Einteilungen sehr theoretisch sind. Wenn man Stuhlinkontinenz zudem noch in Grade unterteilt und diese den Schweregrad suggerieren, wird es dem Problem oft nicht gerecht. Im Grunde geht es bei Stuhlinkontinenz nicht nur um die Tatsache, Stuhl nicht halten zu können, es geht nicht nur um das Medizinische, sondern auch um die Lebensqualität. Aus Angst, jemand könnte es bemerken, gehen manche Betroffene gar nicht mehr aus dem Haus, weil sie sich einfach so schämen. Die Hemmschwelle ist so groß, dass viele lieber zu Hause bleiben, statt sich mit Freunden oder Freundinnen in der Kneipe zu treffen. Stuhlinkontinenz wirkt sich auch auf das Familienleben, die Paarbeziehung und die Sexualität aus.

Was sind die häufigsten Ursachen für Stuhlinkontinenz?

Ganz häufig ist es einfach dünner Stuhl, also Durchfall, wofür es wiederum viele Ursachen gibt, die im ersten Schritt natürlich abgeklärt werden müssen. Neben der Abklärung, warum diese chronischen Durchfälle bestehen, gilt es natürlich, den Stuhl zu regulieren. Denn selbst wenn mit dem Schließmuskel und dem ganzen beteiligten System alles in Ordnung ist, ist chronischer Durchfall für den Kontinenzapparat dauerhaft eine extrem belastende Situation. Am besten ist natürlich eine gute Stuhlsäule. Ich sage immer gerne „Die gute Wurst“ (lacht). Ein gut geformter Stuhlgang ist für jeden am besten zu halten – viel besser, als wenn er breiig oder matschig ist. Und abgesehen davon reizt dünner Stuhlgang auch die ganze Schleimhaut, des Enddarms und Analkanals und führt dann zu weiteren Problemen wie Hautreizungen etcetera, weil immer was rausschmiert. Gut geformter Stuhl macht das eben nicht.

Welche Formen oder Grade der Stuhl-Inkontinenz gibt es?

Medizinisch gibt es verschiedene Einteilungen – aber wirklich sinnvoll finde ich keine davon. Sie sind meist nur beschreibend und sagen wenig darüber aus, was Betroffene tatsächlich erleben. Wichtiger ist, warum jemand stuhlinkontinent ist – also die Ursache herauszufinden. Denn nur wenn man diese kennt, kann man gezielt behandeln und die Lebensqualität verbessern. In der Medizin unterscheidet man beispielsweise zwischen Inkontinenz 1. Grades, wenn Winde nicht gehalten werden können, 2. Grades, wenn flüssiger oder breiiger Stuhl unkontrolliert abgeht und 3. Grades, wenn selbst geformter Stuhl nicht mehr gehalten werden kann. Das beschreibt aber nur das Symptom, nicht die Lebenssituation. Viel aussagekräftiger ist die Frage, ob jemand den Stuhl passiv verliert – also ohne es zu merken –, oder ob der Stuhldrang so stark ist, dass er nicht mehr zurückgehalten werden kann. Auch der Stuhltyp spielt eine Rolle: Dünnflüssiger Stuhl ist schwieriger zu halten als geformter. Und die psychische Belastung ist unterschiedlich – ob jemand unbemerkt eine kleine Menge verliert oder plötzlich in der Öffentlichkeit unkontrolliert Stuhl absetzt, macht einen riesigen Unterschied. Wenn jemand ab und an mal unkontrolliert so einen kleinen Köttel geformten Stuhlgangs in der Unterhose hat, ist das für viele weniger schlimm, als ständig unkontrolliert in unpassenden Situationen Winde abzulassen. Das alles hängt natürlich sehr von den individuellen Lebensumständen ab.  Wenn ich jetzt beim Geschäftsessen mit Kunden oder Kundinnen bin und da ständig pupse, ist das für viele schlimmer, als wenn einmal einen Mini-Köttel in der Unterhose landet, was keiner mitbekommt. Nach solchen Erfahrungen entsteht oft eine starke Angstspirale: Die Betroffenen stehen unter Stress, was wiederum den Darm beeinflusst – der reagiert dann mit noch mehr Durchfall oder Verstopfung. So geraten viele in einen Teufelskreis.

Gibt es ein Alter, in dem Stuhlinkontinenz vermehrt auftritt?

Das ist eine schwierige Frage, weil es dazu kaum belastbare Statistiken gibt – einfach weil das Thema so tabuisiert ist. Die meisten Erhebungen beruhen auf den Daten von Menschen, die bereits beim Arzt waren und deren Fälle dann offiziell erfasst wurden. Die Dunkelziffer kennen wir aber nicht. Es gibt nur wenige Studien, die Menschen direkt und anonym befragen. Und selbst dann braucht es viel Überwindung, ehrlich anzugeben, dass man stuhlinkontinent ist. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass ältere Menschen häufiger betroffen sind – zumindest gehen wir davon aus. Besonders in Pflegeheimen oder bei Menschen mit zusätzlichen psychischen Erkrankungen zeigt sich das. Auch eingeschränkte Mobilität kann eine Rolle spielen: Wenn jemand nicht schnell genug zur Toilette kommt, kann es leicht zu einem Malheur kommen. Aber betroffen sind nicht nur ältere Menschen. Auch jüngere können Probleme haben – etwa durch chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, die häufig bei jungen oder mittelalten Menschen auftreten. Frauen, die Kinder geboren haben, insbesondere nach Sturzgeburten oder wenn Geburtsverletzungen im Dammbereich vorliegen, sind ebenfalls gefährdet. Stuhlinkontinenz ist also keineswegs ein reines Thema des Alters.

Viele Menschen bringen Darmkrebs in Verbindung mit Stuhlinkontinenz. Inwiefern spielt das eine Rolle?

Durchfall kann tatsächlich ein Symptom für Darmkrebs sein – nicht unbedingt chronischer Durchfall, sondern vor allem, wenn sich die Stuhlgewohnheiten plötzlich verändern. Wenn jemand also immer einen gut geformten Stuhlgang hatte und plötzlich nur noch Durchfall oder Verstopfung auftritt, oder beides im Wechsel, mal so, mal so, kann das ein Warnsignal sein. Nach einer Operation im Dickdarm kann der Stuhl ebenfalls weicher werden, weil der Dickdarm dem Stuhl normalerweise Wasser entzieht. Wenn Teile des Dickdarms entfernt wurden, bleibt weniger Zeit dafür – der Stuhl wird dadurch dünner. Zudem befinden sich am Ende des Dickdarms, im Mastdarm, viele druckempfindliche Zellen. Werden diese durch Entzündungen oder Operationen geschädigt oder entfernt, spüren Betroffene oft nicht mehr richtig, dass sie zur Toilette müssen. Auch das kann zu Inkontinenz führen. Wenn zusätzlich der Schließmuskelapparat betroffen ist – etwa bei einem Mastdarmkrebs (Rektumkarzinom) oder sogar einem Analkarzinom –, kann die Fähigkeit, den Stuhl zu halten, weiter eingeschränkt sein. Je weiter der Tumor also nach unten in Richtung After lokalisiert ist, desto höher ist das Risiko für Stuhlinkontinenz.  Gar nicht so selten kann nach einer Operation des Mastdarms oder auch nach Bestrahlung ein sogenanntes Low Anterior Resection Syndrome (LARS) entstehen. Das bedeutet: Wenn ein Stück des Enddarms entfernt wurde oder nicht mehr richtig funktioniert, hat das häufig Auswirkungen auf die Haltefähigkeit und die Wahrnehmung des Stuhldrangs. Unser Kontinenzapparat ist ein sehr komplexes System – er besteht aus vielen Teilen, die fein aufeinander abgestimmt sind.

Sie sind zudem Fachärztin für Allgemeinchirurgie, Sexualmedizinerin und Proktologin. Was reizt Sie an Ihrem medizinischen Tätigkeitsfeld?

In der Proktologie vereinen sich ziemlich viele von meinen Tätigkeitsfeldern. Auch wenn die Schulmedizin den Menschen in verschiedene Fachbereiche aufteilt, finde ich es wichtig, immer einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen zu haben. Stuhlinkontinenz ist kein rein medizinisches oder organisches Thema – wie eigentlich nichts in der Medizin. Es geht immer um den ganzen Menschen. In der Proktologie gibt es natürlich organische Themen und Probleme, und gleichzeitig hängt dort vieles mit vielem zusammen. Hier zentriert sich viel in den Bereichen Beckenboden und Poregion, hier geht es viel um Spannung halten, gleichzeitig aber auch um Entspannen und Loslassen. Das hat viel mit Stress, mit Ängsten, mit Traumata zu tun. Und da hilft es natürlich, die Hintergründe und Ursachen zu kennen. 

Können Sie die psychischen Ursachen für Stuhlinkontinenz etwas näher erläutern?

Wie gesagt, alles hängt mit allem zusammen. Viele kennen vermutlich den sogenannten Stressdurchfall – etwa vor Prüfungen oder wichtigen Ereignissen. Manche Menschen reagieren mit Durchfall, andere mit Verstopfung. Unser Körper ist nicht dafür gemacht, dauerhaft unter Stress zu stehen. Früher konnten wir auf Stress mit Flucht, Angriff oder Erstarren reagieren – danach kam die Entlastung. Heute bleibt diese Entlastung oft aus, wir „schütteln“ den Stress nicht mehr ab. Das führt dazu, dass sich Spannungen im Körper aufbauen und der Darm besonders empfindlich reagiert. Der Darm steht in enger Verbindung mit unserem Nervensystem – man spricht von der Darm-Hirn-Achse. Emotionen, Hormone und körperliche Prozesse beeinflussen sich gegenseitig. Stress oder Angst können also ganz reale Auswirkungen auf die Darmtätigkeit haben. Auch Anspannung im Beckenboden spielt eine Rolle. Wenn man sprichwörtlich „den Arsch zusammenkneift“ oder „die Zähne zusammenbeißt“, ist das keine bloße Redensart. Dauerhafte Anspannung kann dazu führen, dass man die Fähigkeit verliert, loszulassen – auch im wörtlichen Sinne. 

Wenn ich jetzt das Gefühl habe, da stimmt etwas nicht – an wen kann ich mich wenden?

Das Wichtigste ist, überhaupt irgendwo hinzugehen. Viele Menschen tun das nicht, weil sie sich so sehr schämen. Aber in dem Moment, in dem man den Schritt wagt und darüber spricht – sei es mit einer Ärztin, einem Arzt oder einer vertrauten Person –, ist schon ein großer Schritt geschafft. Als erste Anlaufstelle kann der Hausarzt oder die Hausärztin sinnvoll sein. Sie können die richtigen Fachärzte hinzuziehen – etwa Gastroenterologinnen und Gastroenterologen, wenn Durchfall im Vordergrund steht, oder Gynäkologinnen und Gynäkologen, wenn die Beschwerden nach Geburten begonnen haben. Wichtig ist, jemanden zu finden, der das Thema ernst nimmt und sich damit auskennt. Und wenn man sich in einer Praxis nicht gut aufgehoben fühlt, sollte man den Mut haben, eine zweite Meinung einzuholen. Langfristig sind Proktologinnen und Proktologen die beste Adresse, wenn Stuhlinkontinenz im Raum steht – denn sie sind auf diese Problematik spezialisiert.

Viele haben Angst vor einer solchen Untersuchung. Wie genau läuft so etwas ab, was passiert vor Ort? Können Sie den Patientinnen und Patienten diese Angst nehmen?

Ich hoffe doch, denn so schlimm ist es wirklich nicht. Viele Patientinnen und Patienten sagen hinterher: „Hätte ich das gewusst, wäre ich viel früher gekommen.“ Das höre ich sehr oft. Der wichtigste Schritt ist, überhaupt einen Termin zu vereinbaren. Man muss sich nicht groß vorbereiten – keine Darmspülung, keine Rasur oder sonstige kosmetische Maßnahmen. Uns ist das alles nicht wichtig. Natürlich müssen wir den Po sehen, sonst können wir nicht untersuchen. Aber davor wird in Ruhe gesprochen, und dann läuft alles Schritt für Schritt ab. Je nach Praxis zieht man sich unten herum ganz aus oder lässt die Unterhose leicht unter den Po rutschen. In der Regel sitzt man auf einem gynäkologischen Untersuchungsstuhl – Frauen kennen das, für Männer ist es oft neu. Der Stuhl wird etwas nach hinten gekippt, damit wir den After gut sehen können. Dann schauen wir uns die Haut und den Afterbereich genau an. Als nächstes tasten wir, denn ein wesentlicher Teil der Untersuchung ist die sogenannte digital-rektale Untersuchung – also die Untersuchung mit dem Finger. Das ist in der Regel völlig schmerzlos und sehr aufschlussreich. Wenn etwas wehtut, gehen wir selbstverständlich behutsam vor oder brechen ab. Gewalt wird dabei nie angewendet. Anschließend folgt die Untersuchung mit einem kleinen Gerät, einem Proktoskop oder Rektoskop. Damit können wir die Schleimhaut des Enddarms von innen ansehen. Der Durchmesser des Instruments wird individuell angepasst, und der Vorgang dauert nur wenige Minuten. Danach besprechen wir gemeinsam, was wir gesehen haben und welche weiteren Schritte sinnvoll sind.

Und was können Sie dabei erkennen?

Schon der erste Blick auf die Haut rund um den After kann viel verraten. Rötungen, Feuchtigkeit oder kleine Spuren von Stuhlschmieren deuten darauf hin, dass das Stuhlhalten beeinträchtigt ist. Das allein sagt zwar noch nichts über die Ursache, aber es zeigt, dass etwas nicht stimmt. Manchmal sieht man auch, dass der Stuhlgang sehr dünn oder breiig ist, oder dass Reste in der Afterregion verbleiben. Wir können Hautveränderungen erkennen, die Spannung des Schließmuskels und des Beckenbodens. Außerdem können wir erkennen, ob Schleimhaut oder Gewebe – zum Beispiel vergrößerte Hämorrhoiden, Polypen oder Mastdarmschleimhaut – in den Afterkanal hineinragen und dadurch verhindern, dass der Schließmuskel richtig schließen kann. Das ist, als würde ein Fenster nicht ganz zugehen, weil etwas dazwischen hängt. Auch die Muskelspannung prüfen wir: Ist der Schließmuskel kräftig oder schwach? Ist der Beckenboden zu angespannt? Solche Dinge lassen sich mit dieser dreiteiligen Untersuchung gut feststellen. Hinzu kommt, dass wir kleine Einrisse, Analfissuren) oder andere Ursachen erkennen können, die Schmerzen und Fehlkoordination auslösen. Das alles zusammen – das Gespräch, also die Anamnese und die Untersuchung – ergibt ein umfassendes Bild, auf dessen Grundlage wir gezielt weiterarbeiten können.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es dann?

Behandlungsmöglichkeiten sind natürlich abhängig vom Befund. Sie sind zahlreich und das würde hier den Rahmen sprengen. Vielleicht zunächst einmal soviel: Wir alle haben Hämorrhoiden – das ist völlig normal. Sie sind sogar hilfreich, weil sie den After abdichten. Wenn sie sich jedoch stark vergrößern, kann das zu Nässen, Schmieren und Reizungen führen. Dann kann ein kleiner Eingriff notwendig sein. Grundsätzlich gilt: Die Regulierung des Stuhls ist die wichtigste Basismaßnahme. Ein gut geformter Stuhlgang lässt sich besser halten und reizt die Haut weniger. Pressen sollte man vermeiden, ebenso ständiges Zurückhalten. Ein gutes Gefühl für den eigenen Beckenboden ist entscheidend. Manchmal ist eine Operation sinnvoll – etwa, wenn sich der Mastdarm nach innen einstülpt oder absenkt und das zu Beschwerden der Kontinenz oder Entleerung führt. Aber man fängt nie sofort mit großen Eingriffen an. Es gibt viele konservative Maßnahmen, die helfen: Schließmuskeltraining, Beckenbodentherapie, Ernährungsumstellung. Die Therapie ist immer individuell. Stuhlinkontinenz ist keine lebensbedrohliche Erkrankung, sondern eine, welche die Lebensqualität betrifft. Deshalb hängt der Behandlungsweg stark davon ab, was die Betroffenen sich wünschen und womit sie sich wohlfühlen. Natürlich gibt es auch operative Behandlungen, die speziell auf Stuhlinkontinenz ausgerichtet sind. Doch auch diese sind individuell zu sehen. 

Welche Rolle spielt der Beckenboden im Zusammenhang mit Stuhlinkontinenz?

Der Beckenboden spielt eine zentrale Rolle. Er sorgt für Stabilität und Haltung und hilft bei der Kontinenz und Entleerung. Er wirkt als Gegenpol des Zwerchfells bei der Atmung und ist auch wichtig für die Sexualfunktion – bei Männern wie bei Frauen. Eine gute Wahrnehmung und Entspannungsfähigkeit sind wichtig, denn ein ständig verspannter Beckenboden behindert die Durchblutung und kann Schmerzen oder Lustlosigkeit verursachen. Für die Kontinenz ist insbesondere der Musculus puborectalis entscheidend. Er verläuft wie eine Schlinge vom Schambein um den Mastdarm herum. Diese Schlinge hält den Darm in einem bestimmten Winkel – ähnlich wie ein abgeknickter Gartenschlauch. Solange der Winkel besteht, bleibt alles dicht; beim Loslassen richtet sich der Darm etwas auf, und der Stuhl kann abfließen. Deshalb spielt auch die Toilettenhaltung eine Rolle: In der Hocke funktioniert die Entleerung natürlicher als im Sitzen, weil sich der Winkel öffnet. Moderne Toiletten sind oft zu hoch, daher kann ein kleiner Fußhocker helfen, den natürlichen Hockwinkel wiederherzustellen.

Kann Biofeedback eine Therapiemöglichkeit bei Stuhlinkontinenz sein?

Ja, auf jeden Fall – allerdings nicht bei jeder Ursache. Wenn die Inkontinenz auf Durchfall beruht, bringt Biofeedback wenig. Aber bei einem schwachen Schließmuskel oder einer Koordinationsproblematik des Beckenbodens kann es sehr hilfreich sein, eine Stimulation oder auch ein Biofeedback mit einem Gerät durchzuführen. Dabei wird eine kleine Sonde in den After eingeführt, über die Betroffene mithilfe elektrischer Impulse oder Rückmeldungen lernen, den Schließmuskel gezielt anzuspannen und zu entspannen. Das ist anfangs ungewohnt, aber sehr effektiv. Wichtig ist nur, dass man dranbleibt – ein paar Wochen reichen nicht. Ebenso entscheidend ist eine gute Anleitung: Die Übungen müssen richtig erklärt und regelmäßig überprüft werden. Sonst trainiert man am Ende die falschen Muskeln.

Welche Rolle spielt die Pomuskulatur?

Im Prinzip gar keine – jetzt mal platt formuliert. Den großen Pomuskel anzuspannen, hilft beim Halten des Stuhls nicht. Viele Menschen versuchen reflexartig, „alles“ anzuspannen, wenn sie Angst haben, etwas zu verlieren – das führt aber eher zu Verkrampfungen und Schmerzen im Beckenboden- und Pobereich. Entscheidend sind die tieferliegenden Muskeln, nicht die äußeren.

Stimmt es, dass man bei Stuhlinkontinenz keine Pants verwenden sollte?

Pants oder Windelhosen ändern natürlich nichts an der Inkontinenz selbst. Sie sind bei Stuhlinkontinenz auch weniger effektiv als bei Harninkontinenz, weil Stuhl nicht aufgesogen wird. Wenn nur kleine Mengen austreten, empfehle ich eher eine weiche Vließkompresse, die direkt vor den After gelegt und regelmäßig gewechselt wird. So bleibt die Haut trocken und wird besser geschützt. Windelhosen decken diesen Bereich gar nicht richtig ab. Für viele Betroffene ist das Tragen solcher Hilfsmittel aber psychisch entlastend – sie geben Sicherheit. Diese Sicherheit hilft wiederum, Angst und Scham zu reduzieren, die mit der Inkontinenz einhergehen. Es geht also weniger um die Funktion als um das Sicherheitsgefühl. Es gibt auch sogenannte Anal-Tampons, die man ausprobieren kann. Sie sind nicht für jede Person geeignet, können aber helfen, wieder mehr am Alltag teilzunehmen – etwa einkaufen zu gehen oder Freunde zu treffen, ohne ständig Angst zu haben. Wichtig ist, sie in Ruhe zu Hause zu testen, um zu sehen, ob man damit zurechtkommt.

Was kann ich unabhängig von der Ursache selbst tun? Welche Rolle spielt beispielsweise die Ernährung?

Ernährung spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Zucker, Kaffee oder scharf gewürzte Speisen können den Stuhl weicher machen. Wenn die Haut im Afterbereich ohnehin gereizt oder wund ist, verschlimmert das die Beschwerden zusätzlich. Ich empfehle meinen Patientinnen und Patienten häufig, zunächst ein Tagebuch zu führen – über mehrere Wochen hinweg. Darin sollte festgehalten werden, wie oft Stuhlgang auftritt, wie die Konsistenz ist, ob der Drang wahrgenommen wird, ob es ungewollte Verluste gibt, und natürlich, was man gegessen hat. Auch Stress, Emotionen und Wohlbefinden sollte man notieren. Oft zeigt sich nach einiger Zeit ein Muster: Manche haben an Arbeitstagen mehr Probleme als am Wochenende, oder sie bemerken, dass bestimmte Lebensmittel die Situation verschlechtern. Solche Erkenntnisse helfen enorm, die eigenen Auslöser zu verstehen. Eine gute Stuhlregulierung ist die Basis. Hilfreich sind zum Beispiel Flohsamenschalen – sie unterstützen sowohl bei zu dünnem als auch bei zu hartem Stuhl und tragen zu einer gleichmäßigen Konsistenz bei. Das sind einfache, aber sehr wirksame Maßnahmen.

Sie haben erwähnt, dass Stuhlinkontinenz oft psychosoziale Folgen hat – etwa die, dass Betroffene sich zurückziehen. Haben Sie Empfehlungen für Patientinnen und Patienten und unsere Leserinnen und Leser?

Leider gibt es speziell für Stuhlinkontinenz bisher nur wenige Angebote, weil das Thema so schambehaftet ist. Eine gute Anlaufstelle ist die Deutsche Kontinenzgesellschaft, die auch Informationsmaterial und Kontakt zu Selbsthilfegruppen vermittelt. Es gibt zwar Selbsthilfegruppen zur Inkontinenz allgemein, aber kaum solche, die sich explizit mit Stuhlinkontinenz beschäftigen. Genau deshalb schreibe ich derzeit einen Ratgeber zu diesem Thema – weil es bislang kaum fundierte Literatur dazu gibt. Für viele Menschen ist der Gedanke, die Kontrolle über den Stuhlgang zu verlieren, mit großer Scham verbunden. Das betrifft nicht nur ältere oder pflegebedürftige Menschen, sondern auch Jüngere mitten im Berufsleben. Darüber zu sprechen, ist ein wichtiger erster Schritt. Wenn man jemanden im Umfeld hat, dem man sich anvertrauen kann – sei es eine vertraute Person oder eine ärztliche Fachkraft –, kann das sehr entlastend sein. Offene Gespräche helfen, die Scham zu durchbrechen und Missverständnisse im Alltag zu vermeiden.

Wie erleben Sie Betroffenen, die zu Ihnen kommen, und wie begegnen Sie Ihnen?

Das ist sehr unterschiedlich. Die Menschen, die zu uns Proktologinnen und Proktologen kommen, haben meist schon einen großen Schritt hinter sich: Sie haben sich überwunden, einen Termin zu vereinbaren und offen über ihr Problem zu sprechen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Viele nennen beim Erstgespräch zunächst andere Gründe, zum Beispiel „Ich habe Hämorrhoiden“, weil es leichter fällt, das auszusprechen. Im Verlauf des Gesprächs oder spätestens bei der Untersuchung zeigt sich dann oft, dass Stuhlinkontinenz dahintersteckt. Wenn jemand schließlich offen darüber spricht, ist das meist ein Moment der Erleichterung. Dann geht es darum, was diese Person wirklich braucht: Will sie verstehen, warum der Po juckt? Will sie eine gezielte Behandlung? Oder einfach wissen, dass es kein Krebs ist? Stuhlinkontinenz ist keine Erkrankung, an der man stirbt – aber sie kann das Leben massiv beeinträchtigen. Deshalb ist es wichtig, gemeinsam herauszufinden, welche Ziele die betroffene Person hat. Nicht jede Behandlung passt zu jedem, und das darf auch so sein. Manchmal lässt sich die Situation deutlich verbessern, manchmal nur lindern – aber fast immer kann man etwas tun. Und selbst wenn am Ende ein künstlicher Darmausgang nötig sein sollte, empfinden manche das als echte Erleichterung, weil sie damit die Kontrolle über ihren Körper zurückgewinnen.

Stuhlinkontinenz ist also nur ein Symptom und hängt immer von der Ursache ab, richtig?

Genau. Stuhlinkontinenz ist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein Symptom mit vielen möglichen Ursachen. Wenn man diese erkennt und gezielt behandelt, lässt sich die Situation in der Regel deutlich verbessern – auch wenn es manchmal Geduld braucht. Wir Ärztinnen und Ärzte können nicht zaubern, aber wir können begleiten, beraten und motivieren. Viel hängt davon ab, dass die Betroffenen selbst mitarbeiten – etwa bei der Ernährung oder beim Beckenbodentraining. Wenn beides zusammenspielt, kann man erstaunlich viel erreichen.

Haben Sie Empfehlungen für Betroffene jenseits von Therapien oder Medikamenten?

Das ist sehr individuell und hängt stark von der Lebenssituation ab. Ein zentraler Punkt ist das Annehmen der Situation. Egal ob die Ursache eine schwierige Geburt, eine Operation oder eine chronische Erkrankung ist – die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Akzeptanz bedeutet nicht Resignation, sondern ist der Startpunkt für Veränderung. Wenn man nicht ständig in Gedanken bei dem ist, was „hätte sein können“, kann man viel besser nach vorne schauen. Viele meiner Patientinnen und Patienten haben diesen Schritt schon getan, einfach indem sie zu mir kommen. Das ist ein großer und mutiger Anfang.

Wie und wo engagieren Sie sich abseits des Klinikalltags und was ist Ihre Motivation, sich mit unserem Allerwertesten zu beschäftigen?

Um die Wahrnehmung zu verändern und dem Thema eine Plattform zu geben, betreibe ich auf Instagram den Kanal @apropos.po. Hier versuche ich, alle Themen, die mit dem Po-Gebiet zusammenhängen, aufzugreifen. Das ist nämlich ganz schön viel. Zudem gibt es einen Podcast zu dem Thema, der heißt „Apropos PO – der Podcast rund um den Allerwertesten“, den gibt es überall, wo es Podcasts gibt. Menschen denken meist nur an Hämorrhoiden, wenn sie an den Po denken, doch es gibt so unglaublich viel mehr. Es ist mir ein wirkliches Anliegen, das alles aufzuzeigen. Wir brauchen unseren Hintern für so viel - eine wirklich sehr facettenreiche Region und superspannend. Ich halte außerdem Vorträge rund um das gesamte Thema Po-Gebiet und habe einen Ratgeber über Stuhlinkontinenz geschrieben, der im Juni 2026 erscheinen wird.

Mit Ihrer Haltung erreichen Sie ja vor allem Menschen, die sich vielleicht noch nicht trauen, zur Ärztin oder zum Arzt zu gehen. Was ist Ihr Ziel dabei?

Mir geht es darum, das Thema zu normalisieren. Sätze wie „Schäm dich nicht“ funktionieren nicht – das ist, als würde man jemandem sagen: „Entspann dich mal.“ Das Gegenteil passiert. Ich möchte durch Aufklärung und Gespräche zeigen, dass Stuhlinkontinenz nichts Exotisches ist, sondern ein medizinisches Problem, das viele betrifft – und für das es Lösungen gibt. Wenn man Ohrenschmerzen hat, geht man zum HNO-Arzt. Wenn man Probleme mit dem Po hat, geht man eben zum Proktologen oder zur Proktologin. Mein Ziel ist, dass Menschen verstehen: Sie sind nicht allein. Das Thema darf benannt werden – ohne Scham, ohne Tabu. Denn nur so kann man auch etwas verändern.

Was wünschen Sie sich darüber hinaus, dieses Thema betreffend?

Ich wünsche mir, dass Gespräche mit Patientinnen und Patienten endlich als das anerkannt werden, was sie sind: ein zentraler Teil der Medizin. Unser System ist leider immer noch auf schnelle Diagnosen und Eingriffe ausgelegt. Aber gerade bei so schambesetzten Themen wie Sexualität oder Stuhlinkontinenz braucht es Zeit und Vertrauen. Das wäre eine wichtige Weichenstellung – nicht nur für Betroffene, sondern auch für uns Behandelnde.

Mittlerweile rücken ehemals sehr schambehaftete Themen immer weiter in die Öffentlichkeit, zum Beispiel Menstruation oder auch Sexualität. Aber bei Stuhlinkontinenz sind wir noch nicht so weit, oder?

Leider nein. Bei Stuhlinkontinenz sind wir noch weit davon entfernt, so offen darüber zu sprechen wie über andere Tabuthemen. Über Depressionen, Menstruation oder Harninkontinenz wird mittlerweile öffentlich geredet – das ist ein großer Fortschritt. Bei Stuhlinkontinenz dagegen herrscht nach wie vor großes Schweigen. Deshalb nenne ich sie gerne das „Tabu im Tabu“. Mein Wunsch ist, dass sich das ändert – dass dieses Thema endlich einen Platz im gesellschaftlichen Diskurs bekommt. Denn nur wenn wir darüber sprechen, kann sich auch etwas bewegen.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Schulte-Eversum.




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