„Bei einer gutartigen Prostatavergrößerung, die operativ verkleinert wird, ist das Problem der Inkontinenz nach drei, vier Monaten wieder gelöst.”

Inkontinenz ist ein belastendes Problem, das häufig bei Männern nach einer Prostata-Operation auftritt. Prostatakrebs oder auch eine gutartige Vergrößerung der Prostata können eine solche Prostataoperation nötig machen. Wie genau es zu diesem postoperativ auftretenden ungewollten Harnverlust kommt, was man dagegen tun kann und welche Hilfs- und Therapiemittel zur Verfügung stehen, erklärt Urologin Prof. Dr. med. Ricarda M. Bauer im Interview.

Prof. Ricarda M. Bauer: 
Urologin, Chefärztin in der Urologischen Klinik in München-Planegg und Inhaberin einer eigenen urologischen Praxis in München. 

Frau Prof. Bauer, mit zunehmendem Alter bekommt fast jeder Mann Prostata-Probleme. Welche unterschiedlichen Gründe für eine Prostata-Operation gibt es, und warum kann es danach zu einer postoperativen Inkontinenz kommen?

Da gibt es zum einen die gutartige Prostatavergrößerung, die sogenannte benigne Prostatahyperplasie (BPH), bei der die Prostata operativ nur verkleinert wird. Das Risiko, nach so eine Operation dauerhaft inkontinent zu bleiben, ist hier sehr gering. Es kann passieren, dass der Patient in den ersten Monaten etwas Probleme hat, den Urin zu halten, bis der Schließmuskel sich an die neue Situation gewöhnt hat. Typischerweise ist das Problem der Inkontinenz bei einer gutartigen Prostatavergrößerung, die operativ verkleinert wird, aber nach drei, vier Monaten wieder gelöst. Bei Prostatakrebs erfolgt allerdings die komplette Entfernung der Prostata, die sogenannte radikale Prostatektomie. Hier kann es sein, dass durch die Operation der Schließmuskel entweder direkt oder indirekt in Mitleidenschaft gezogen wird und es somit zu ungewolltem Harnverlust kommt. Dies kann mehrere Ursachen haben. Insgesamt steigt zum einen mit zunehmendem Alter das Risiko der postoperativen Harninkontinenz, aber auch Faktoren wie die Größe der Prostata und wie fortgeschritten der Tumor ist, sind relevant. Natürlich spielt auch die Erfahrung des Operateurs eine Rolle. Außerdem kommt es durch die Entfernung der Prostata zu einer Veränderung der Anatomie, was auch eine Schwächung des Schließmuskels zur Folge haben kann.

Um welche Form der Inkontinenz handelt es sich hier?

Bei der postoperativen Inkontinenz handelt es sich um eine Belastungsinkontinenz, die typisch für Frauen ist, bei Männern aber sehr selten auftritt, außer sie wurden an der Prostata operiert. Das heißt, die Hauptursache für eine Belastungsinkontinenz beim Mann ist eine radikale Prostatektomie. Bis zu 70 Prozent der Männer haben in der Anfangsphase, also im ersten Jahr nach der Totalentfernung der Prostata, zusätzlich noch Drangbeschwerden, das heißt, sie müssen ganz schnell und plötzlich auf die Toilette und verlieren im Zweifel auf dem Weg dorthin schon Urin. Für diese Fälle gibt es Medikamente, die diese Dranginkontinenz, was ja etwas anderes ist als eine Belastungsinkontinenz, lindern. Daher ist es ganz wichtig, genau zu schauen: Ist es wirklich eine reine Belastungsinkontinenz, oder liegen zusätzlich noch Drangprobleme vor, die medikamentös wirklich sehr gut behandelt werden können?

Inwiefern bedingt die Art des Eingriffes eine postoperative Inkontinenz?

Es ist eigentlich egal, welche OP-Methode angewandt wird – offen, laparoskopisch (Anmerkung der Red.: minimal-invasiv) oder mit der Da-Vinci-Methode (Anmerkung der Red.: mit einem OP-Roboter) – das Risiko der persistierenden, also der dauerhaften postoperativen Belastungsinkontinenz, besteht grundsätzlich. 

Gibt es unterschiedliche Schweregrade der postoperativen Inkontinenz?

Es gibt eine geringe, mittlere und schwere Belastungsinkontinenz. Kommt der Urinverlust nur bei längerer körperlicher Aktivität vor, oder schon beim Aufstehen, Gehen, oder gar schon im Sitzen? Bei einer schweren Inkontinenz verliert man Urin sogar im Liegen. Der Urinverlust geht dabei von tropfenweise bis zu einer komplett unkontrollierten Inkontinenz – quasi oben rein, und unten fließt es direkt wieder raus. Allerdings darf man nicht den Fehler machen und die drei Tropfen am Tag abtun, so nach dem Motto: Das kann doch nicht so schlimm sein! Die Einschätzung, wie sehr der Urinverlust die Lebensqualität beeinträchtigt, ist etwas sehr Individuelles und Persönliches. Ich habe Männer in Behandlung, die verlieren 50 Prozent ihrer Urinmenge, und die finden es gar nicht so dramatisch und kommen damit gut zurecht, und andere verlieren zehn Milliliter am Tag, und für die ist es ein Desaster.  

Welche Möglichkeiten gibt es, die postoperative Inkontinenz zu therapieren?

Das Erste ist immer Beckenboden- bzw. Schließmuskeltraining. Dazu sollte man wissen: Der Schließmuskel ist ein Teil des Beckenbodens. Und hier reicht es nicht, dem Patienten einfach ein Zettelchen zu geben oder zu sagen, hier ist ein schönes Buch, und jetzt üb mal schön. Männer wissen typischerweise nicht, dass sie überhaupt einen Beckenboden haben beziehungsweise wie man diesen ansteuert. Sie brauchen Wahrnehmungsübungen und müssen diese Muskelgruppe überhaupt erst einmal finden. Sie müssen lernen, wie sie diesen Muskel ansteuern, damit sie am Ende nicht den Bauch und den Po und die Oberschenkel trainieren, aber den eigentlichen Muskel nicht. Hierbei ist es ganz wichtig, das Training bei einem Beckenbodentherapeuten, also einem spezialisierten Physiotherapeuten durchzuführen.  

Ab wann kann ich mit dem Muskelaufbau beginnen? Direkt nach der OP?

Früher hat man immer gesagt, man solle lieber einige Wochen warten. Heute wissen wir, sobald der Katheter entfernt ist, sollte das Training beginnen. Außerdem bin ich eine große Befürworterin davon, die Patienten sogar schon vor der Operation zum Physiotherapeuten zu schicken. Zwischen Diagnosestellung und dem OP-Termin ist meistens genügend Zeit für erste Wahrnehmungsübungen. Wenn alles frisch operiert und unangenehm ist, dann ist es viel schwieriger, einen Muskel zu finden, den man bisher nie gespürt habe. Außerdem kann man den Männern bereits vor der Operation mit dem Training schon mal eine gewisse Sicherheit mitgeben, das Gefühl, dass sie selbst etwas tun können. Dann fühlt man sich nicht so ausgeliefert. Das Problem ist nur leider, dass die Krankenkassen das für gesetzlich Versicherte nicht zahlen. Sie zahlen erst das Training nach der Operation, in der Anschlussbehandlung. 

Oft folgt auf eine Krebs-OP eine Bestrahlung. Muss man diese erst abwarten, bevor mit dem Aufbautraining begonnen werden kann?

Die Bestrahlung folgt ja selten unmittelbar auf die OP. Man wartet erst eine gewisse Heilung ab. Und in dieser Zeit sollte unbedingt schon die Physiotherapie erfolgen.  

Was kann noch getan werden, um die Inkontinenz möglichst schnell wieder loszuwerden?

Es gibt ein Medikament, Duloxetin, das ist zugelassen für die Belastungsinkontinenz der Frau. Duloxetin kann man aber bei Männern im Sinne eines Off-Label-Uses (Anmerkung der Red.: Verordnung außerhalb des zugelassenen Gebrauchs) angewendet werden. Das Muskeltraining braucht circa sechs bis acht Wochen, bis ein erster Effekt spürbar ist, und das kann schon ein sehr langer Zeitraum sein, wenn man sich die ganze Zeit in die Hose macht. Da hilft das Medikament, schnellere Erfolge zu spüren. Allerdings wirkt die Tablette nur, solange sie eingenommen wird. Eine dauerhafte Verordnung ist nicht sinnvoll. 

  • Duloxetin ist ein gegen Belastungsinkontinenz wirkendes Medikament. Es verbessert die Kontraktilität (die Fähigkeit, sich zusammenzuziehen) des quergestreiften Harnröhrenschließmuskels und bewirkt eine Stärkung des Schließmuskels. 

Ein wichtiges Anliegen ist mir, dass die betroffenen Männer mit dem richtigen Inkontinenzmaterial versorgt werden. Viele lassen ihre Frauen einkaufen, die dann irgendwelche Frauenhygieneartikel mitbringen. Es gibt extra Inkontinenzeinlagen und auch andere Produkte speziell für Männer, die an die männliche Anatomie angepasst sind. Zudem gibt es Kondomurinale für sehr schwere Fälle, die für einige Männer eine deutliche Erleichterung bringen können. Eine gute Versorgung ist nicht zu unterschätzen! Auch eine Penisklemme kann hilfreich sein, um ein paar Stunden, etwa bei einem Theaterbesuch, „tropffrei“ zu sein.  

Wie stehen die Chancen, die eigene Kontinenz wieder zu erlangen?

Das ist individuell ganz unterschiedlich. Bei dem überwiegenden Anteil der Patienten ist es möglich, mindestens eine deutliche Verbesserung ihrer Inkontinenz zu erreichen, aber erfreulicherweise bekommen wir viele unserer Patienten sogar wieder „trocken“. Ich empfehle meinen Patienten immer erst mal drei Monate ganz konsequente, konservative Therapie. Und ich kontrolliere und bespreche mit meinen Patienten auch, ob sie richtig trainieren. Wenn sich dann wirklich nichts tut, so ab sechs Monaten nach der Operation, trotz konsequentem Training, dann ist das der Augenblick, in dem ich mit meinen Patienten über eine Operation zur Behandlung der Inkontinenz spreche. Wenn es aber Fortschritte gibt, auch kleine, dann ermutige ich meine Patienten, mit der Physiotherapie weiterzumachen.  

Um was für eine Operation zur Behandlung der Inkontinenz handelt es sich?

Man muss schauen, wie schwer ist der Schließmuskelschaden, wie schwer die daraus resultierende Inkontinenz, und dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Der künstliche Schließmuskel ist für all die Patienten, die eine stark ausgeprägte Inkontinenz haben, sinnvoll, um wieder kontinent zu werden. Bei geringer oder mittelgradiger Inkontinenz kommen sogenannte Schlingensysteme zum Einsatz. Diese unterscheiden sich in adjustierbare und fixe Systeme. Bei der Abklärung sollte aber ganz individuell geschaut werden, was für den jeweiligen Patienten die beste Methode ist. 

Blick in die Zukunft: Zeichnen sich neue Behandlungsmethoden oder Möglichkeiten ab?

Es gab lange Zeit die Hoffnung, dass man mit Hilfe von Stammzellen eine Regeneration der geschädigten Bereiche anregen kann. Eine solche Therapie wird in absehbarer Zeit für unsere Patienten aber leider noch nicht verfügbar sein. Was derzeit entwickelt wird, ist ein elektrischer Schließmuskel, der mit einer Fernbedienung gesteuert wird, oder aber mit Hilfe einer App auf dem Smartphone. So kann man dann elektrisch steuern, wann man Wasser lassen will und sich die Blase entleeren soll. Aber auch das wird noch einige Zeit dauern, da so ein neues Produkt ja erst viele Testphasen durchlaufen und Studien überstehen muss, um auf den Markt zu kommen. 

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Prof. Bauer. 




Frequently asked questions

Inkontinenz – was hilft wirklich?