Ja, gerne. Ich bin Nadja, 37 Jahre alt, ich habe auch zwei Kinder und seit April 2020 bin ich Hebamme.
Interview
Wir haben so ein romantisches Bild von der Schwangerschaft, da hat Inkontinenz oft keinen Platz
Unsere Seni-Expertin Danijela Döring redet mit Hebamme Nadja über das Tabuthema Inkontinenz in der Schwangerschaft. Für Nadja ist ganz klar: Wir müssen viel mehr über unsere Körper sprechen, damit wir uns in ihnen endlich wieder wohlfühlen können.
Ich bin sehr gespannt auf dieses Interview. Denn ich habe meine beiden Kinder mit Hebammen zur Welt gebracht – und die Hebammen waren mir eine große Hilfe. Darum freu ich mich, dass wir heute sprechen. Magst Du Dich kurz vorstellen?
Das ist ja interessant, dann ist Hebamme gar nicht dein erster Beruf?
Nein, das war nicht mein erster Berufsweg. Aber dafür bin ich jetzt umso leidenschaftlicher freiberufliche Hebamme. Das heißt, ich begleite werdende Mütter zu Hause oder bei uns im Geburtshaus. Und ich bin auch während des Wochenbetts dabei, also in der ersten Zeit nach der Geburt. Außerdem biete ich Kurse zur Geburtsvorbereitung an, zur Rückbildung nach der Geburt oder auch zum Thema Erste Hilfe am Kind.
Solche Kurse habe ich auch gemacht und die haben mir damals wirklich geholfen. Wo arbeitest du denn als Hebamme?
Unser Geburtshaus steht in Eberswalde und hat dieses Jahr 20-jähriges Jubiläum. Aber unser Einzugsbereich ist riesig. Zu mir kommen z.B. auch Frauen aus der Uckermark, weil die sonst keine anderen Möglichkeiten haben.
Wir unterschätzen immer, wie schwierig es sein kann, eine gute Hebamme zu finden. Meine erste Hebamme ging nach meinem ersten Kind in Rente und danach hatte ich verschiedene. Das war gar nicht so einfach, muss ich sagen. Ich musste ganz schön viel organisieren, damit das klappt. Aber mal ganz konkret gefragt, wie ist das denn, wenn du nachts angerufen wirst, packst du dann deinen Koffer und los geht’s?
Ja, genauso ist das. Ich stehe 24 Stunden auf Abruf. Aber das macht ja gar nichts. Ich bin mit den Frauen so eng und wir sehen uns so häufig, dass ich schon sehr gut einschätzen kann, wann ich mal so einen Mitternachtsanruf bekommen könnte. Da gibt es selten Überraschungen.
Bei unserer Aktion #lebenohnedruck dreht sich ja alles um das Thema Inkontinenz. Und da bekommen wir immer wieder mit, dass Blasenschwäche besonders in der Schwangerschaft eine Rolle spielt. Teilst du diese Erfahrung?
Ja, auf jeden Fall. Wobei ich das Gefühl habe, dass Inkontinenz während und nach der Schwangerschaft trotzdem ein großes Tabu ist. Ich muss ganz präzise danach fragen, ansonsten schweigen viele Mütter leider. Dabei haben die meisten Frauen in der Schwangerschaft eine physiologische Inkontinenz. Uns das ist ja logisch. Weil das Baby gern auf die Blase drückt. Dazu kommen die Hormone, die für mehr Harndrang sorgen. Und spätestens am Ende der Schwangerschaft ist es so, dass die meisten Frauen hier und da mal ein Tröpfchen Urin verlieren. Es ist auch schon ziemlich oft passiert, dass Frauen dachten, ihre Fruchtblase wäre geplatzt, dabei war es nur die Urinblase, die ein Tröpfchen rausgelassen hat.
So viele Menschen wissen nicht, dass Du durch eine Schwangerschaft inkontinent werden kannst. Wir reden einfach nicht darüber, weil wir das Gefühl haben, dass dieses Thema unangenehm ist. Deshalb finde ich so gut, dass du es jetzt ansprichst.
Es ist wichtig, dass wir darüber sprechen. Wir haben so ein romantisches Bild von der Schwangerschaft, dass wir teilweise komplett ausblenden, wie radikal diese Erfahrung sein kann und wie stark sich Dein Körper dadurch verändert – abgesehen davon, dass Dein Bauch dicker wird. Ganz oft habe ich erlebt, dass sich Frauen mit ihrer Inkontinenz einfach abgefunden haben. Das muss nicht sein. Denn bei dem Thema geht es ja nicht nur um die Schwangerschaft. Inkontinenz kann sich auf Deine Partnerschaft auswirken, Deine Sexualität und Dein Empfinden für Dich selbst und Deinen Körper.
Ich merke schon, dass Dein Ansatz da anders ist. Kannst du erklären, was Deine Herangehensweise besonders macht?
Ich versuche den Leuten immer zu zeigen, dass Dein Körper nicht aus lauter Einzelteilen besteht, sondern ein Gesamtsystem ist. Das gilt besonders für den Beckenboden, der bei Inkontinenz eine große Rolle spielt. Das ist nicht einfach nur ein Muskel, sondern eine ganze Muskelgruppe, die den gesamten Körper stützt. Und wenn wir uns und unserem Beckenboden etwas Gutes tun wollen, besonders in der Schwangerschaft, dann müssen wir auf ganz viele kleine Dinge achten. Wie trage ich eine schwere Kiste? Wie stehe ich richtig auf? Wie niese ich? Weil der Trick immer ist, dass die Belastung nicht nur nach unten, auf den Beckenboden geht, sondern im Körper verteilt wird.
Ich hätte auf jeden Fall gern vor meiner Schwangerschaft gewusst, dass der Beckenboden ein Muskel ist, den man pflegen sollte. Da herrscht so eine Stille. Und das führt doch bestimmt dazu, dass Frauen leiden, oder?
Ja klar. Dieses Tabu sorgt für Probleme. Wirklich. Selbst in meinen Rückbildungskursen, wo wir ja ganz ungestört sind, muss ich mich langsam herantasten. Ich kann nicht einfach nachfragen. Da würden viele Frauen vor Scham im Boden versinken. Auch wenn es vielleicht jede Zweite betrifft. Das ist ganz intim. Aber wenn da was nicht stimmt, ist die ganze Frau aus dem Lot. Und das merke ich und es dauert teilweise, bis die Frauen wieder in den Kontakt mit ihrem Körper kommen. Und diese Scheu liegt halt daran, dass wir nicht darüber reden. Die Botschaft muss sein: Es ist total okay, dass Dein Körper nicht 100% funktioniert. Das ist normal. Das kriegen wir hin.
Ja, ich weiß das aus persönlicher Erfahrung, wie schwer der Weg ist, dass Du Hilfe bekommst. Dass jemand Dir nach der Geburt sagt: So tust Du mit deinem Beckenboden etwas Gutes. Das kann Dir helfen. Und Du gehst so richtig auf das Thema zu.
Muss ich ja auch, sonst ändert sich das nicht. Wir müssen alle lernen, besser auf unseren Beckenboden aufzupassen. In der Schwangerschaft ist es superwichtig, den Druck vom Beckenboden wegzunehmen. Wenn die Frauen vom Sofa aufstehen, sage ich schon, lehn dich zur Seite, steh so auf. Und das übst Du für den Rest deines Lebens.
Das ist so ein schöner Gedanke. Weil ich schon das Gefühl habe, dass Ärzt*innen dazu nicht so viel sagen.
Absolut. Aber das ist auch das Gesundheitssystem. Da geht es nicht um Prävention. Da geht es darum, wie wir Inkontinenz behandeln. Aber nicht darum, wie wir sie verhindern.
Darüber bin ich auch gestolpert. Du musst Dich selber auf die Reise machen und herausfinden, was Du brauchst. Und das ist belastend, weil die Frauen, mit denen ich spreche, natürlich darunter leiden und sich allein gelassen fühlen. Und das ist ja erschreckend. Weil das ist ja unser Körper.
Du hast total recht. Aber ich merke auch, dass sich das inzwischen ein bisschen ändert und die Frauen sich auch mehr Kontrolle über ihren Körper zurückholen.
Gibt es denn die Chance, eine Inkontinenz zu besiegen?
Ja, meistens kann man die Symptome mildern. Du kannst immer was tun. Ich arbeite inzwischen auch mit einer Beckenboden-Spezialistin. Die schaut sich den Beckenboden mit Ultraschall an und entwickelt dann komplett individualisierte Trainingspläne.
Das ist so wichtig, denn der Beckenboden trägt ja alles und wir brauchen das richtige Bewusstsein dafür, was uns unser Körper sagt. Hast du denn richtig gute Tipps, wie ich meinem Beckenboden was Gutes tun kann?
Am wichtigsten ist Offenheit. Seid ehrlich. Gegenüber den Ärzt:innen und den Hebammen. Sucht Euch Hilfe. Und schämt Euch nicht. Wenn wir offen darüber reden, können wir uns am besten austauschen, was wirklich gut für unseren Beckenboden ist und was bei Inkontinenz hilft.
Toll, es gibt Hoffnung! Hast du denn noch etwas, das du uns unbedingt mitgeben willst?
Frauen, wenn Ihr schwanger seid, sucht Euch eine Hebamme.